Auch wenn der Künstler eine ganze Reihe von Selbstporträts geschaffen hat, so fehlt der Mensch an sich in Zeidlers Bildern fast vollständig. Statt der Menschen erscheinen Vogelscheuchen als ihre Ebenbilder. Sie können wie in der Lithographie „Tanzende Vogelscheuchen“ (Werk.-Nr. 1234, 1972) das Leben genießen, oder wie in der Lithographie „Streitende Vogelscheuchen“ (Werk-Nr. 1620, 1981) auch einmal Dispute austragen.
In seiner späten Schaffensphase setzte sich Zeidler mit den Menschen in Form ihrer Ebenbilder als Vogelscheuchen ebenso tiefsinnig wie humorvoll auseinander. Das Skizzenbuch VIII aus den Jahren 1987 – 1988 lieferte dazu reichlich Inspirationen.
Die sogenannten Schattenrisse, die Zeidler ab November 1987 in seinem Arbeitskatalog verzeichnet, sind in erster Linie in schwarzer Tempera gehalten. Der Großteil der Schattenrisse stammt „Aus dem Leben der Vogelscheuchen“-Zyklus und zeigt das diverse Treiben der Vogelscheuchen, die zuletzt im Buch „Hans-Joachim Zeidler oder die letzte Vogelscheuche – Ein Selbstgespräch in fünfundsiebzig Schattenrissen“ von 1989 verarbeitet wurden. Erschienen ist die 80-seitige Publikation im Selbstverlag und einer Auflage von 1.000 Exemplaren. Mit „Die Überfahrt“ besitzt die Solnhofer Sammlung eine der insgesamt 91 Tempera-Schattenrisse, die in den Jahren 1987 bis 1989 entstanden. Basierend auf diesen Temperas, fertigte Zeidler insgesamt 39 schwarz-weiß Siebdrucke in unterschiedlichen Größen an. Diese sind als Sammelwerke unter den Werknummern 2038 und 2101 aus den Jahren 1987 und 1988 in Zeidlers Werkkatalog verzeichnet. Der mit Abstand größte Siebdruck ist „Künstler eilt zum Bildermarkt“ mit 56 x 68,4 cm. Die Auflagen schwanken zwischen 60 und 125 Exemplaren. Die Siebdrucksammlung des Geo-Zentrum Solnhofen ist mit Ausnahme von vier Motiven (Ikarus, Die Schlucht, Das Wiedersehen, Die Sänfte) vollständig.
Bezogen auf die Spätphase des Künstlers dürfte die Solnhofer Sammlung kunsthistorisch die wichtigste Primärquelle sein. Im Jahre 1985 schuf Zeidler die beiden Temperas „Winterreise II“ und „Das Strandbild“. Letzteres zeigt eine malende Vogelscheuche vor einer gespannten Leinwand, auf dem Meeresboden bei Ebbe stehend. Die Vogelscheuche, die anstelle Zeidlers steht, malt eines seiner Lieblingsmotive, einen Leuchtturm. Mit den Vogelscheuchen führte Zeidler eines seiner Themen in konsequenter Art weiter. In den Jahren 1987 entstanden die Lithographien „Hochzeit“ und „Der Fotograph“. In den Temperagemälden „Die Grafikscheuche“, „Der Kunstsammler“ und „Der Bilderkarren“ blickt Zeidler bereits auf sein eigenes Bildergesamtwerk.
Die Vogelscheuchen sind ein Rückblick auf die Kindheit in den pommerschen Kartoffelfeldern. Ihr Ursprung findet sich in der dreifarbigen Lithographie „Vogelscheuchen“ aus dem Jahr 1967. Das Bild zeigt aufgespießte Kartoffeln, die an die toten Soldaten des Krieges erinnern. Zeidler hat es durch Reisen verstanden, sich von den Schatten des Krieges in Pommern und Berlin zu lösen. Ganz frei davon wurde er nie.
[Der ursprüngliche Text stammt von den Kuratoren Dr. Martin Röper & George Arauner und war Teil der Ausstellung „Berliner Malerpoet Hans-Joachim Zeidler – eine Retrospektive“ vom 30.06. bis 06.08.2023 in der KunstSchranne Weißenburg.]
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